Patriarchalische Ideologie

oder matriarchalisches Wertsystem -

Die Auseinandersetzung um

Herman Wirth und die Ura-Linda-Chronik

von Matthias Wenger

 

Prolog

Es ist vielleicht einiges vorrauszuschicken, wenn man einen Mann erneut in die Diskussion bringt, der durch die Verbindung mit Himmlers Ahnenerbe in dauerhafter und unauflöslicher Weise historisch und politisch beeinträchtigt ist. Weder geht es darum, die Verbrechen des Reichsführers SS zu relativieren, noch die politische Naivität Wirths zu verteidigen, der einiges an Konfrontation mit den Machthabern brauchte, bis er erkannte, wes Geistes Kind die SS tatsächlich war.

Ferner wird es auch nicht darum gehen, den Eindruck zu erwecken, es hätte innerhalb der NS-Bewegung eine Option des Widerstandes gegeben, die dem Beteiligten die Möglichkeit eröffnete, bei weitgehender Anpassung an das System der eigenen ethischen Verantwortung trotzdem gerecht zu werden (sog. "innere Emigration").In Anbetracht des Raffinements der Argumentation der Neuen Rechten sei darauf hingewiesen, daß dergleichen hier nicht beabsichtigt ist.

Vielmehr liegt hier ein Lehrstück über den Umgang des deutschen Bildungsbürgertums mit jenen skandinavisch-germanischen Traditionen vor, von denen man sich nicht zu Unrecht fasziniert fühlte, und die man, statt ihre historische Aufgabe im Kontext der europäischen Religionsgeschichte zu begreifen, an die Mächtigen auslieferte. Und zwar auslieferte als Legitimation zur Rechtfertigung von Größenwahn, Massenmord und Landraub größten Stils.

Die Konsequenz bestände im Grunde darin, die inhaltliche Aufarbeitung dieser "prähistorischen" Traditionen erneut in Angriff zu nehmen, ihre vielseitigen Möglichkeiten, die auch im humanistischen, ökologischen und feministischen Bereich liegen, herauszuarbeiten.

Die Erkenntnis, dass die germanischen Traditionen nicht zwangsläufig Eigentum und Bastion völkisch-konservativer Spießer sein müssen, sondern allen naturreligiös interessierten Menschen gehören, möge sich mit unserer Aufklärungsarbeit Bahn brechen.

 

 

Das Interesse an der europäischen

Vorgeschichte von 1880 bis 1930

Man macht sich heute keine rechte Vorstellung mehr davon, welch großes Interesse der Vorgeschichte und Archäologie im Deutschland der Zwanziger Jahre entgegengebracht wurde. Die Deutschen, ohnehin schon Nachzügler in Bezug auf kollektive nationale Identität, waren nach dem Debakel des ersten Weltkriegs erst recht in einer problematischen Situation. Der politische und wirtschaftliche Druck seitens der Westmächte auf die junge deutsche Demokratie hatte Folgen: Es ging darum, dem äußeren Druck zu entrinnen: Durch den Rückgriff auf eine grandiose Vergangenheit erschien es leichter, der Gegenwart standzuhalten.

Schon allein die Erscheinungsjahre bedeutenderer Quellen und Arbeiten zur Vorgeschichte machen das deutsche Nachholbedürfnis sichtbar:

Wilhelm Grönbech: Kultur und Religion der Germanen (1909-1912, engl. 1931, deutsch 1937)

James George Frazer : Der Goldene Zweig (1890 / 2. Fassung 1900, dt. 1928)

Arthur Drews : Die Christus-Mythe (Jena 1910)

Die Sammlung Thule (Beginnend mit Bd. 1 der Götterlieder 1912 und Bd. 2 den Heldenliedern 1920) beinhaltete mit ihren Übersetzungen auch die isländischen Sagas, die zahlreiche Details zur Kultur- und Religionsgeschichte enthalten.

Es gab sehr unterschiedliche Sichtweisen der Vorgeschichte - solche, die die germanische mittelalterliche Kultur der Saga-Zeit als der Weisheit letzten Schluß in der Erkenntnis der Vorgeschichte betrachtet. Und Arbeiten wie z.B. Herman Wirths und Bernhard Kummers, die in diesen germanischen Überlieferungen etwas Verborgenes, noch Älteres herauszuarbeiten versuchen. Beide Autoren wiesen immer wieder darauf hin, dass spätere Monarchien und Dynastien bei germanischen Stämmen nicht den Ursprungszustand widerspiegelten. Diese waren eher als Dekadenzerscheinungen eines späteren Machtmißbrauchs zu bewerten, die auf der Abschaffung der Thingdemokratie durch jene Herrscher beruhten.

Die Auswirkungen dieser Ablösung der Demokratie durch eine Autokratie ergaben auch Veränderungen in den mythologischen Bildern: Thor, der Gott der Bauern und Sohn der Mutter Erde, der alte Himmelsgott, wurde abgelöst durch den Gott Odin. Odin war nach den Berichten in Snorris Heimskringla aus dem Osten eingewandert – ein Eindringling, Freund der Könige und Fürsten, dem einfachen Volk fremd und unheimlich.

 

 

Herman Wirths Interesse am Matriarchat

Bereits in Arbeiten, die Wirth vor 1933 publiziert hatte, verweist er auf die symbolische, kultische und in letzter Konsequenz kulturell-politische Bedeutung des Weiblichen:

Im "Aufgang der Menschheit" von 1928, ein Werk, das er Margarete Wirth-Schmitt, "der edlen Seherin unseres Geisteserbes" widmet, befaßt sich Wirth ausführlich mit der Symbolik des Mutterhauses als Sinnbild der Wiedergeburt des Lichtes in der Wintersonnenwende. Dort heißt es: " Es ist eine uralte, allgemein atlantisch-nordische, kosmische Sprachsymbolik, daß in der "Mutter-Erde" das "Werden", "Sein" beginnt" (S. 475).

"Es handelt sich hier um einen uralten Lehrsatz der atlantischen Religion und ihrer kultischen Sprache, daß in den "Wassern", in dem "Mutterhaus", der "Erde", da wo die Wurzeln des Lebensbaumes sich befinden, ...der "Gottessohn", der "Mensch" geboren wird. Und wie der "Mensch", so werden "die Menschen", seine Kinder, dort wieder geboren, erhalten sie den "Hauch", den "Atem", wird ihnen der "Mund" geöffnet zum "Sprechen"." (S. 479)

In "Was heisst deutsch ?" von 1931 schrieb er: " Einst war die Trägerin und Hüterin dieser unserer alten Gottesfreiheit ...die Frau" (S.57)

"Gib dem Volke seine Volksmütter wieder ! Dafür ist es nötig, daß es sein Odal wieder erhält. Es reicht der deutsche Boden für lange Zeiten noch dafür aus. Das Wort vom "Volk ohne Raum" ist hier ein Irrtum.

Löset des Zinses Fluch von unserer Mutter Erden,

Daß heim wir können gehen und Gottes Freie werden. " (S. 59)

Bezeichnenderweise werden diese Äußerungen Wirths von jenen Zeigeschichtlern übergangen, die ihm lediglich vorwerfen, mit jenem Text den Aufstieg der NS-Bewegung gefördert zu haben.

In einem Vortrag 1979:

"... die pfälzischen Felsdenkmäler...sie sind Zeugen einer 30 000 - jährigen Friedenszeit, als die Frau das geistige Element war. Der Wissenschaftler widersprach gleichzeitig der Auffassung, diese Zeit als "primitiv" zu bezeichnen. Im Mittelpunkt dieser Epoche stand die göttliche Verehrung der Allmutter" bzw. "Himmel- und Erdenmutter" ..." (Die Zeitung Rheinpfalz v. 14.02.79 über einen Vortrag Wirths vor dem Rotary-Club Kusel, Häke S. 7).

"Die Frauenherrschaft ist nach Prof. Wirth eine geschichtliche These. Aus den Völkerwanderungen entstand die Anti-These: Die Jahrhunderte des Absolutismus und Klerikalismus bis zum Kapitalismus....Die Frau müsse demnächst den ihr zustehenden Platz in der Gesellschaft wiederbekommen. Ohne sie fehle ein ruhender Pol: Ein Geistespotenial, das auf die Gemeinschaft des Lebens baue und nicht auf die Macht. Prof.Wirh:"Wenn das in den nächsten 50 Jahren nicht erreicht werden kann, ist es aus mit der Erde...". (Aus einem Artikel der Rheinpfalz wenige Tage vor dem Rotarier-Vortrag, zit. bei Häke, S. 8).

"Prof. Wirth war von Anfang an ein Verfechter des geistigen Matriarchats der Frau, der "Urmutter" - bzw. der "Mutter-Erde-Theorie" ...In seinen Vorträgen sprach er damals wie heute von der Frau als Urheberin und Trägerin der "abendländischen Urhumanität". (Häke, S. 23)

"Die sozialreligiöse Urgemeinschaft Europas vom Schwarzen Meer, Don und Wolga bis zur Ultima Thule rund um die Nordsee, die in Hut der "Mütter" stand, geht alsdann durch die eurasiatische Völkerwanderung überwiegend nomadischer Stämme in Trümmer. Heerkönigtum und Kriegermännerbund entstehen, Freude am Kampf und Krieg als Lebenssinn des Mannes, Kriege um Beutegewinn, Eroberung und Unterjochung. Das Ergebnis ist der neue Machtstaat, mit dem gesetzten männlichen Machtrecht, und den neuen Kriegsgeleit-, Königs- und Staatsgöttern und der Staatspriesterschaft (kultisches Patriarchat).

Die Frau wird aus ihrer bisherigen überragenden kultisch-sozialen Stellung in der Betreuung von Volk und Staat entfernt. An Stelle der Gemeinschaft tritt Hörigen- und Sklavenwirtschaft des Machtstaates, der sich über Absolutismus, Feudalismus, Klerikalismus bis zum Demokratie-Kapitalismus weiter evolutionierte. Das Ende ist die jetzige Menschheitskrise einer anorganisch gewordenen, rein männerrechtlichen Machtwelt, dem der andere Pol - die Frau und Volksmutter - fehlte und fehlt...." (Herman Wirth in einer Begleitschrift zu einer Ausstellung 1958 in Marburg "Die Mütter in Ost und West", zit. b. Häke, S. 25)

 

Matriarchat und Patriarchat. Worum handelt es sich dabei ?

Bachofen (1815-1887) zitiert in seinem "Mutterrecht" Herodots Kunde von den Lykiern: "...Eine sonderbare Gewohnheit haben sie, die sonst kein anderes Volk hat: sie benennen sich nach der Mutter und nicht nach dem Vater. Denn wenn man einen Lykier fragt, wer er sei, so wird er sein Geschlecht von Mutterseite angeben und seiner Mutter Mütter herzählen, und wenn eine Bürgerin mit einem Sklaven sich verbindet, so gelten die Kinder für edelgeboren...". Und Bachofen kommentiert: "Diese Stelle ist darum so merkwürdig, weil sie uns die Sitte der Benennung nach der Mutter in Verbindung mit der rechtlichen Stellung der Geburten, folglich als Teil einer in allen ihren Folgen durchgeführten Grundanschauung darstellt." (Bachofen, S.61)

Wenn man sich die Frage nach der Sinngebung der matriarchalischen Theoriebildung im Geschichtsverständnis stellt, wird man nicht um das Problem der Abwertung des Weiblichen herumkommen: Beispiele aus der "ethischen" Tradition indoeuropäischer Hochkulturen zeigen die Dringlichkeit feministischen Denkens, die weibliche Identität zu stärken und ihr klare Konturen zu geben:

Plato (427-347 v. Ztw.) im Timaios, Kptl.44 (Die Entstehung der Frauen und Bildung der Geschlechtsorgane): "...Unter den als Männer Geborenen gingen die Feiglinge, und die während ihres Lebens Unrecht übten, der Wahrscheinlichkeit nach, bei ihrer zweiten Geburt in Frauen über. Und deshalb entwickelten die Götter um jene Zeit den Trieb zur Begattung, indem sie so in uns wie in den Frauen ein beseeltes Lebewesen gestalteten...." (Übersetzung nach Friedrich Schleiermacher)

Die Gesetze des Manu, Kptl. 5, Vers. 148: "...In der Kindheit muß eine Frau von ihrem Vater abhängen, in ihrem jungfräulichen Alter von ihrem Ehemann und wenn er tot ist, von ihren Söhnen, wenn sie keine Söhne hat, von den nahen Verwandten ihres Gatten, hat er aber keine hinterlassen, von den Verwandten ihres Vaters und wenn sie keine väterlichen Blutsfreunde hat, vom Landesherrn; eine Frau muß nie nach Unabhängigkeit streben". (Übersetzung nach Johann Christian Hüttner, Weimar 1797) - Helmuth v. Glasenapp erwähnt, daß Sir William Jones die Entstehungszeit des Buches ins 13. Jhdt. v. Ztw. verlegte, während man heute ein Alter von ca. 2000 Jahren annehme.

Der Indogermanist Otto Schrader (i. Schrader / Krahe, S. 77ff.) sieht als Quintessenz der Geschlechterbeziehung bei den Indogermanen die sog. Kaufehe und als Vorstufe die Raubehe. Und der französische Indogermanist und Dumézil-Schüler Jean Haudry bemerkt 1981 über "Das Recht der Stammlinie" lapidar: "Die Patrilineariät wird durch die Homologie zwischen menschlichem Samen und pflanzlichem Samen, sowie durch die Gleichsetzung von Frau und Acker veranschaulicht". (Haudry, S. 122).

Chronologie der Verstrickung

1932 erhielt Wirth das Angebot der nationalsozialistischen Regierung Mecklenburgs, in Bad Doberan ein "Forschungsinstitut für Geistesurgeschichte" zu gründen. Schon 1933 gab es dafür keine Finanzierung mehr.

Hitlers Meinung zu Wirth war durchweg abwertend (. Kater, S. 14)

1933 gibt es eine gekürzte Neuausgabe der Ura-Linda-Chronik durch Wirth.

1933/34 soll Rosenberg für das gesamte Gebiet der Parteiorganisationen ein Redeverbot gegen Wirth erlassen zu haben, sowie die Anweisung, Wirths Forschung aus allen Lehr- und Schulbüchern zu entfernen (Kater, S. 16).

Am 24.01.1934 wird Alfred Rosenberg zum Reichsleiter ernannt als "Beauftragter für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP". Rosenbergs Mann in der Vorgeschichtswissenschaft ist Hans Reinerth, seine Antipoden Alexander Langsdorff und Hans Schleif ordnen sich Himmler unter, um sich Rosenbergs Einfluß zu entziehen.

Spätherbst 1934: Wirth lernt auf einer Abendgesellschaft bei Dr. von Leers Himmler und auch Darré kennen.

In der Zeitschrift Mannus Heft 1/2 von 1935 (Herausgegeben für den Reichsbund für deutsche Vorgeschichte von Hans Reinerth) veröffentlicht Bolko Freiherr v. Richthofen einen scharfen Angriff gegen Albert Herrmanns Werk Unsere Ahnen und Atlantis und Herman Wirth.

01.07.1935: Himmler gründet mit Wirth zusammen die Stiftung Ahnenerbe. Wirth ist Präsident und Himmler und Vorsitzender des Kuratoriums. Wolfram Sievers (Jahrgang 1905), vorher eine Zeitlang Wirths Privatsekretär, wird Generalsekretär der Stiftung.

Bis 1936 gab es eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Ahnenerbe, dem Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und dem "Reichsnährstand". Für letzteren federführend war Walter Darré, seit 1933 Reichsbauernführer und Reichsernährungsminister. Darreés These, vertreten in seinem Buch "Das Bauertum als Lebensquell der nordischen Rasse" (1929): Der Germane ist ein ackerbebauender Siedler, der mit der Scholle fest verwachsen ist. Darré und Himmler waren seit 1930 bekannt. Aber irgendwann gab es eine grundlegende geistige Entfremdung zwischen Himmler und Darré, die darin gipfelte, daß am 09.11.1936 das Ahnenerbe dem persönlichen Stab des RFSS unterstellt wird, damit dem Einfluß Darrés weitgehend entzogen. (s. Kater S. 39 und S. 42)

Frühjahr 1936: Himmler knüpft Kontakte mit Wüst. Walther Wüst ist Indologe, Privatdozent und seit 1932 Professor an der Universität München, dort auch SD-Vertrauensmann und seit 1935 kommissarischer Dekan der philosoph. Fakultät.

Von März 1936 bis Februar 1937 setzt man Wirth immer schärfer unter Druck. Himmler verbot ihm eigenständige Verhandlungen und Korrespondenz, verhinderte Pläne Wirths für eine Freilichtschau und verlautbarte, daß Arbeitsaufträge des RFSS Prioriät hätten gegenüber eigener Forschungsarbeit. Kater: "Anfang 1936 entschloß sich Himmler, Herman Wirth loszuwerden" (S. 43)

Joseph Otto Plassmann ist seit 1937 Leiter der Märchenforschung im Ahnenerbe. Er ist ein Protegé von Wüst und zugleich Schriftleiter der Ahnenerbe-Zeitschrift Germanien.

Dezember 1938: Herman Wirth tritt aus dem Ahnenerbe aus.(s. Kater, S. 458)

01.01.1939: Himmler wird neuer Präsident des Ahnenerbes, Wüst dessen neuer Kurator.

In seinem Brief an Himmler vom 05.12.1938 resümiert Wirth das Geschehen rückblickend:

"...Die sich daran knüpfende grundsätzliche Auseinandersetzung zwang mich Stellung zu nehmen gegen die von Prof. Wüst in Ihrer Vertretung und in Ihrem Namen beanspruchte "einheitliche Führungs- und Kommandogewalt" zur "einheitlichen Ausrichtung des geistigen, wissenschaftlichen Lebens und Schaffens". In meinem Schreiben vom 06.05.1938 ...an Prof. Wüst, hatte ich auf die Notwendigkeit der freien Austragung der Meinungsverschiedenheiten als Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis und der Kultur überhaupt hingewiesen. Die Unterbindung dieser geistigen Freiheit, die auf der persönlichen Verantwortung beruhe, ihre Uniformierung, bedeute eine schwere Gefährdung der deutschen Kultur und im besonderen auch - der Charakterbildung. Mein Satz: - "Es ist unmöglich, die Normen politisch-militärischer Organisation auf das geistige Leben und Schaffen übertragen zu wollen. Hier gibt es kein Führerprinzip und keine Kommandogewalt" - bezeichnet Obersturmbannführer Prof. Wüst in seinem Antwortschreiben vom 16.04.1938 ....als "typische Charakteristika einer individualistischen liberalistischen Wissenschaftsauffassung, die zu überwinden Aufgabe der jungen Wissenschaft im Dritten Reich ist".....

Die gegen mich angewandte wirtschaftliche Nötigung seitens SS-Sturmbannführer Wüst ("Denken sie an Ihre Familie" !), bis zu der unverblümten Drohung mit dem Konzentrationslager seitens SS-Sturmbannführer Galke, alles Kettenglieder in einer Reihenfolge von Beleidigungen und Demütigungen , zwingen mich, in Wahrung meiner persönlichen Ehre, Verantwortung und Gewissensfreiheit, zu dem schwergefaßten Entschluß, Ihnen mein Amt im Ahnenerbe zur Verfügung zu stellen....

Gleichzeitig bitte ich Deutschland verlassen zu dürfen und in meine niederländische Heimat zurückkehren zu können.....

Und diese Erkennnis als ehrlicher Forscher vergewissert mich, daß die nochmalige extreme Zuspitzung einer staatlichen Kriegermännerbund-Ideologie als Prinzip der Macht und der Gewalt - nicht den Anfang eines Neuen Zeitalters sondern ihr Ende bedeutet. Das neue Zeitalter wird den Gang zu den Müttern bringen, eine wieder gehobene Stellung unserer edelsten und wertvollsten Frauen...." (zit. b. Häke, S. 33 ff)

 

 

 

 

Wirths Kontrahenten –

Exponenten eines faschistischen Patriarchats

Dass Wirth versuchte, aus den umstrittenen Überlieferungen der Friesen in der Ura-Linda-Chronik und der Symbolgeschichte ein kultisches Matriarchat herauszuarbeiten, stieß auf erheblichen Widerspruch. Die nachstehenden Zitate führender Kontrahenten von Wirth belegen das und zeigen zugleich, warum Wirths Karriere im dritten Reich schnell beendet war.

Alfred Rosenberg (1930):

"Auf dem Boden Griechenlands wurde weltgeschichtlich entscheidend der erste große Entscheidungskampf zwischen den rassischen Werten zugunsten des nordischen Wesens ausgetragen. Vom Tage, vom Leben trat nunmehr der Mensch ans Leben heran, von den Gesetzen des Lichts und des Himmels, vom Geist und Willen des Vaters aus entstand alles, was wir griechische Kultur als jenes größte Erbe des Altertums für unser Selbst nennen. Es ist deshalb nicht so, als ob das Mutterrecht mit allen seinen Konsequenzen "durch keine volkliche Verwandschaft bedingt" , daß das neue Lichtsystem nur eine "spätere Entwicklungsstufe" sei, wobei das Weib und seine Herrschaft "das ursprünglich Gegebene" darstellten (Bachofen)... Die nordischen Stämme der Helenen anerkannten ihrerseits vor ihrem Einzug in die spätere Heimat nicht die Weiberherrschaft als "erste Entwicklungssstufe, sondern folgten vom ersten Tage ihres Daseins dem Vatergebot " (Rosenberg, S. 39 ff.)

"Vollkommen irreführend ist es, wenn Herman Wirth in "Aufgang der Menschheit" gerade das Mutterrecht als eine urnordisch-atlantische Lebensform hinzustellen sucht, zugleich aber auch den solaren Mythos als nordisches Gut anerkennt. Das Matriarchat ist stets mit chtonischem Götterglauben, das Patriarchat stets mit dem Sonnenmythus verbunden." (S. 135 f. Anm.)

1931 gab es folgenden kurzen Dialog zwischen Rosenberg und Wirth: "Prof. Wirth, was Sie da gestern abend über die Geistesgeschichte de nordischen Frau vorgebracht haben, ist doch wohl Ihre subjektive Schau, die Sie in die Vergangenheit zurückprojizieren." Herman Wirth entgegnete: "Dr. Rosenberg, davon wissen Sie gar nichts. Und davon können Sie auch nichts wissen, weil Ihnen dazu die inneren Vorraussetzungen fehlen". Herman Wirth heute: "Das hat Rosenberg nie vergessen" (Häke, S. 26)

Am 04. Mai 1934 findet in Berlin eine große öffentliche Diskussion über die Ura-Linda-Chronik statt. Das Wort gegen Wirth führten u.a. die Sachwalter Rosenbergs, der Germanist Friedrich Neumann und der Germanist Theodor Steche. Aber auch Gustav Neckel wendete sich gegen die Echtheit der Chronik. Der Berliner Ordinarius Arthur Hübner ist der überzeugteste und rhetorisch wirkungsvollste Gegner Wirths an jenem Abend

Neben sprachgeschichtlichen Argumenten bringt er vor allem ideologiegeschichtliche Einwände: Er bezichtigt die Wesenszüge der in der Chronik geschilderten Kultur einer Verbindung zur Epoche der Aufklärung: Vernunftkult, Liberalismus, Egalitarismus.

Seine Schlußfolgerungen aus diesen Zuschreibungen sind im Sinne der NS-Ideologie politischer Natur. (s. seine Schrift von 1934).

J.O. Plassmann:

"Alles Leben ist Kampf und Sieg: Sieg aber ist die Verpflichtung zu immer neuem Kampfe. Daher ist Kampf der höchste Inhalt des siegreichen Lebens selbst. ... eine hohe Aufgabe:... die Verpflichtung zum Kampfe mit der Finsternis und mit all den bösen Mächten, die den reinen Funken des hohen Lebens bedrohen. .... Aber der Kampf des Lichtes ist nicht Sache unfroher verdrossener Seelen... Freude beseelte die kampfesfrohen nordischen Scharen, die im fernen Indien und auf den Bergen von Iran Staaten und hohe Geisteskulturen schufen. Freudiges Heldentum lebte in den unvergeßlichen Taten der uns nahe verwandten alten Griechen. Und froh und heldenmütig waren die germanischen Scharen gesinnt, die in den Stürmen der Völkerwanderung Altes und Morsches zertrümmerten und dafür ein neues, germanisch bestimmtes Europa schufen." (Plassmann, S. 13 ff.)

Walther Wüst: "...Das Wirken dieser großen deutsch-germanischen Vergangenheit aber, ja darüber hinaus das Bild der gesamten indogermanischen Geschichte ist schlechthin auf Kampf gestellt. Kampf im Osten, Kampf im Westen, Kampf in Nord und Süd, Kampf im zweiten Jahrtausend vor dem Zeitenwechsel wie nicht anders im zweiten Jahrtausend unserer Zeit, Kampf zwischen Einzelnen, Kampf zwischen Geschlechtern, Kampf zwischen ganzen Völkern und Rassen. Wieviel große Szenen, wieviel grausige ! Und doch werden diese dauernden Kämpfe erst voll deutbar, wenn wir sie als die nicht wegdenkbaren Begleiter dauernd neuer Gestaltung verstehen, wenn wir als Urquell so vieler Ströme von Blut eine echte Kampfgesinnung und den Willen zu heldischer Bewährung erkennen, wenn wir diese Kämpfe als Ausfluß gesunder Spannung nehmen und dann zu den Denkmalen aufblicken können, die sich indogermanischer Opfermut unvergänglich errichtet hat..." (Wüst, S. 97).

"Angesichts eines so mächtigen Urquells aller polytheistischen Gestaltung ist es nicht weiter verwunderlich, daß nirgends bei den Frühindogermanen beherrschende Götterpersönlichkeiten auftreten,... außer eben dem Himmelsvater und seinem heldischen Sohn..." (Wüst, S. 81)

Prof. Haverbeck: " Die Ideologie des Nationalsozialismus war -soziologisch gesprochen- männerbündisch. Wirths Werk ist eine unmittelbare Fortsetzung des berühmten Bachofen, der das Mutterrecht als Urform des sozialen Lebens bereits im vergangenen Jahrhundert entdeckt hat. Diese, manchem vielleicht als allzu einseitig erscheinende aber eine notwendige neue Komponente in unserer Sozialpsychologie darstellende Schwerpunktsverlagerung auf die Frau hin, mußte dem nationalsozialistischen Männerbund widersprechen." (zit. b. Häke, S. 32)

 

 

 

Was sagt die Ura-Linda-Chronik über das alteuropäische Gesellschaftssystem ?

Die Textverweise beziehen sich auf die Textausgabe von Wirth

Es besteht ein weibliches Priestertum (S. 20, Nr. 1)

Die drei "Urrassen" entstammen der Erdmutter matrilinear (S. 16) - s. dazu die gegensätzliche Darstellung im eddischen Rigsmal !!

Die Mütter entscheiden selbst über ihre eigenen Nachfolgerinnen (S. 20, Nr.3)

Frauen entscheiden selbst über ihre Lebenspartner (S.21, Nr. 5, S. 23, Nr.2)

Frauen und Männer werden zu gemeinsamer Tätigkeit zusammengeführt S.21, Nr. 6)

Mütter sind in der Rechtsprechung tätig (S.22, Nr. 19, Nr.20 )

 

 

Können die Referenzen zum Matriarchat in der Ura-Linda-Chronik auf Fälschung beruhen ?

Johann Jakob Bachofen publizierte sein "Mutterrecht" im Jahre 1861. Die erste Veröffentlichung der Ura-Linda-Chronik erfolgte im Jahre 1871. Cornelis over de Linden soll aber den Text bereits 1848 von seiner Tante Aafje Meylhof-Over de Linden erhalten haben ! (Los, S. 11).

Wenn letztere Angabe zutrifft, dürfte es sich bei den Darstellungen matrilinearer Stammlinie um keine auf Bachofen anspielende Entlehnung handeln.

 

 

 

 

Alte und Neuere Erkenntnisse über die Widersprüchlichkeit der europäischen Urgeschichte

 

Die ganze Problematik der europäischen Urgeschichte spiegelt sich im Dogma der Authochtonie wider, das die völkische Vorgeschichtsforschung in den Dreißigern und Vierziger Jahren vertrat und in den entsprechenden Kreisen heute noch vertritt:

Danach sieht man in Mitteleuropa eine ethnisch-biologisch konstante Bevölkerung seit der Alt-Steinzeit. Diese habe in mehreren Wanderungswellen außereuropäische Gebiete besiedelt und damit die Entstehung der großen Hochkulturen kausal hervorgerufen.

Eine authochtone europäische Bevölkerung sieht man in Kontinuität von Megalithikum über Bronze- und Eisenzeit bis hin zu den historischen Germanen und Kelten.

In der folgenden Karte ist diese eurozentrische Ursprungs- und Wanderungtheorie dargestellt. Sie entstammt, wie auch die darauffolgende Karte dem völkisch angehauchten Vorgeschichtsbuch "5000 Jahre Deutschland" von Jörg Lechler, aus dem Jahr 1937 (Verlag Curt Kabitzsch).

Die gesamte Diskussion ist verknüpft mit der "Indogermanenfrage", also den Hypothesen über das geographische Ursprungsgebiet der indogermanische Sprachen benutzenden Kulturen.

Denn der archäologische wie auch der sprachgeschichtliche Befund deuten im Gegenzug eher darauf hin, daß östliche Kulturen aus dem südrussischen Raum in nach Westen gerichteten Wanderungsbewegungen Mitteleuropa beeinflußt haben. Die Rede ist von den militanten sog. "Streitaxtleuten".

Selbst der völkisch gesinnte Vorgeschichtler Hermann Güntert konnte sich aus präzisen sprachgeschichtlichen Überlegungen dieser Schlußfolgerung nicht entziehen.

Sowohl die von Wirth referierte und verteidigte Ura-Linda-Chronik als auch Snorris Bericht überOdin und die Asen in der Heimskringla verweisen auf Einwanderungen kriegerischer Stämme aus dem Osten. Zugleich betonen beide Quellen die Tendenz bei diesen Stämmen zur Vergottung von Stammesführern, die sie in einen spirituellen Gegensatz zu bodenverbundenen und realitätstreuen Bauernvölkern stellte.

In neuerer Zeit ist die Gesamtthematik von Marija Gimbutas (Zivilisation der Göttin) durch Dokumentation archäologischen Materials in diesem Sinne erhärtet worden.

Auch diese Karte entstammt dem Werk von Lechler. Auch in den Dreißiger Jahren ließ sich nicht völlig verschleiern, daß die europäische Vorgeschichte Gegenstand widerstreitender kultureller Einflüsse war.

Offen thematisiert wurde sie nicht, weil diese Erkenntnis im Widerspruch zum Homogenitätsgedanken der Volksgemeinschaftsideologie steht.

Auch die Prähistorie ist ein Tummelplatz ideologischer Dogmen. Das gilt sowohl für die aus monotheistischer Sicht favorisierte Ex-Oriente-Lux-Theorie als auch für die Idee, die Mitteleuropa entstammenden Arier seien anderen Menschenarten überlegene Kulturstifter gewesen.

 

 

 

 

 

Benutzte Literatur

J.J. Bachofen: Das Mutterrecht, Auswahl von Hans-Jürgen Heinrichs, Frankfurt am Main, 1982

Dtv-Atlas zur Weltgeschichte Band 1, München 1976

Gimbutas, Marija: Die Zivilisation der Göttin, Frakfurt am Main 1996

Von Glasenapp, Helmuth: Indische Geisteswelt, Baden-Baden, 1958

Göttner-Abendroth, Heide: Das Matriarchat I, Stuttgart - Berlin - Köln, 1995

Güntert, Hermann: Der Ursprung der Germanen, Heidelberg 1934

Häke, Roland: Der Fall Herman Wirth - 1978 -1981 im Landkreis Kusel oder Das verschüttete Demokratiebewußtsein, Frauenberg 1981

Haudry, Jean: Die Indo-Europäer, Wien 1986

Herrmann, Albert: Unsere Ahnen und Atlantis, Neuauflage Steinkirchen 1985

Horken, H.K.: Ex nocte lux, Tübingen 1972

Hübner, Arthur: Herman Wirth und die Ura-Linda-Chronik, Berlin und Leipzig 1934

Kater, Michael: Das "Ahnenerbe" der SS 1935-1945, München 2001

Kummer, Bernhard: Gott Odin - sein Chronist und sein Gefolge, Zeven 1967

Lechler, Jörg: 5000 Jahre Deutschland, Nachdruck Struckum 1983 (Originalausgabe 1937)

Los, Frans J.: Die Ura Linda Handschriften als Geschichtsquelle, Bonn 1983

De Meo, James & Senf, Bernd: Nach Reich - Neue Forschungen zur Orgonomie, Fankfurt a.M. 1997

Plassmann, J.O.:Der Jahresring, Ahnenerbe-Stiftung-Verlag, Berlin-Dahlem o.J. (Der Druck erfolgte noch in Fraktur , der Klappentext zitiert eine Zeitschrift von 1941)

Platon: Sämliche Werke Bd. 5, Hamburg 1974

Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts, München 1935 (Erstausgabe 1930)

Schmoeckel, Reinhard: Die Indoeuropäer, Bergisch Gladbach 2002

Schrader, Otto: Die Indogermanen, Leipzig 1935 (Neubearbeitung von Hans Krahe)

Simon, Gerd: Himmlers Bibel und die öffentlichkeitswiksamste Podiumsdiskussion in der Geschichte der Germanistik

(Quelle: http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/himmlerbibel.pdf.)

Wilser, Ludwig: Deutsche Vorzeit, Berlin 1917

Wirth, Herman (Hrsg.):Die Ura-Linda-Chronik, Leipzig 1933

Wirth, Herman: Was heisst deutsch ?, Jena 1931

Wirth, Herman: Der Aufgang der Menschheit, Jena 1928

Walther Wüst: Indogermanisches Bekenntnis - Sechs Reden, Ahnenerbe-Stiftung-Verlag, Berlin-Dahlem 1942

18.12.2005